Aus dem Johannesevangelium
13 Das Paschafest der Juden war nahe und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. 14 Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. 15 Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern; das Geld der Wechsler schüttete er aus, ihre Tische stieß er um [1] 16 und zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!
17 Seine Jünger erinnerten sich, dass geschrieben steht: Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren.
18 Da ergriffen die Juden das Wort und sagten zu ihm: Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst? 19 Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. 20 Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? 21 Er aber meinte den Tempel seines Leibes. 22 Als er von den Toten auferweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.
23 Während er zum Paschafest in Jerusalem war, kamen viele zum Glauben an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. 24 Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle 25 und brauchte von keinem ein Zeugnis über den Menschen; denn er wusste, was im Menschen war.
Als Johannes das Evangelium Jesu aufschrieb, lag der Tempel in Jerusalem schon zwei Jahrzehnte in Trümmern. Vier Jahre dauerte der Krieg, in dem sich die jüdische Bevölkerung gegen die Besatzermacht der Römer erhoben hatte. Das war ein aussichtsloser Kampf. Er endete im Jahre 70 mit der Eroberung Jerusalems. Der Tempel wurde dem Erdboden gleichgemacht. Nur ein Mauer ist geblieben. Die Westmauer. Manche nennen sie auch die Klagemauer. Nie wieder wurde der Tempel aufgebaut, nicht in drei Tagen und nicht in 2000 Jahren.
Der Tempel war das größte und bedeutendste Heiligtum der Juden. An den wichtigen Festen pilgerten die Gläubigen dorthin, z. B. zum Paschafest, um ihren religiösen Pflichten nachzukommen und Opfer darzubringen. Zugleich war das auch ein Ausflug in die große Stadt. Es gab viele Dinge zu betrachten und zu bestaunen. Der Tempel war das herausragendste Gebäude. Ihn einmal sehen zu können, das war sicher auch eine große Motivation. So wie wir heute gothische Kathedralen besichtigen. Sie sind groß, erhaben, Respekt einflößend. In den anderen Evangelien, die von dieser Szene erst später berichten, wird erzählt, dass auch Jesus sich zunächst einmal alles angeschaut hat. „Er zog nach Jerusalem hinein in den Tempel; nachdem er sich alles angesehen hatte, ging er spät am Abend mit den Zwölf nach Betanien hinaus.“ (Mk 11,11) Bei Johannes ist es sein erster Besuch in der Heiligen Stadt. Vielleicht hatte er aus der Provinz kommend so seine Vorstellungen, wie es um den Tempel herum zugehen müsse. Schließlich ist der Tempel „die Stätte, die der HERR, euer Gott, erwählen wird aus allen euren Stämmen, dass er seinen Namen daselbst wohnen lässt … … ….“ (Dtn 12,5) Der Tempel ist Ort der Gegenwart Gottes. In den Psalmen beten wir: „Wer darf auf den Berg des HERRN gehen und an diesem heiligen Ort vor Gott treten? Jeder, der kein Unrecht tut und ein reines Herz hat.“ (Ps 24,3.4)
Johannes berichtet von einem lebendigen Treiben und von einem aufgebrachten Jesus, der mit einer „Geißel aus Stricken“ alles heraustreibt, was nicht in den Tempel gehört. Den Unwillen Jesu kann ich nachvollziehen. An manchen Wallfahrtsorten bin ich auch erschrocken über die Nähe von Kitsch und Kommerz rund um ein Heiligtum.
War das alles tatsächlich so? Ob und in welchem Ausmaß es Handel und Wandel am Tempel gegeben hat, da ist man sich in der exegetischen Diskussion uneins. Zum einen ist schwer vorstellbar, dass eine Pilgergruppe auf dem Weg die Opfertiere mit sich führte. Wer aus dem Ausland kam, musste irgendwie seine Münzen wechseln können. Wird das alles am Tempel gewesen sein? Hätte man das nicht ebenso an anderen Orten z. B. in der Stadt erledigen können? Wie auch immer, wir haben den Bericht des Johannes, der kein Dokumentarbericht sein möchte, und er erzählt uns von einem aufgebrachten Jesus.
Im weiteren Verlauf wird deutlich, hier geht es nicht um einen Pilger aus der Provinz, der seinem Unmut freien Lauf lässt, sondern um einen Menschen mit einer besonderen Beziehung zu Gott und dessen Haus. Er nennt den Tempel das Haus seines Vaters. „Seine Jünger erinnerten sich, dass geschrieben steht: ‚Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren‘.“ (Joh 2,17/ Ps 69,10)
Die Szene am Tempel ist der Hintergrund, auf dem etwas anderes geklärt werden soll. Gleich zu Anfang des Evangeliums, wir sind ja hier erst in Kapitel 2, geht es um die Frage: Wer ist dieser Jesus? Diese Frage gilt jedoch nicht nur für diese Aktion im Tempel. „Wer glaubst du, dass du bist, dir so etwas erlauben zu können?“ Mit dieser Frage, in der auch ein gewisses Maß an Misstrauen mitschwingt, wird Jesus immer wieder konfrontiert. Ob er einen Kranken am Sabbat heilt oder mit Sündern am Tisch sitzt oder die Schrift auslegt. Überall dort, wo er sich scheinbar über Gottes Gebot hinwegsetzt und für die Menschen ungewöhnlich handelt, wird die Frage nach seiner Vollmacht laut. „Da ergriffen die Juden das Wort und sagten zu ihm: Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst?“ (Joh 2,18). Hier am Haus Gottes wird jetzt wenigstens ein Wunder erwartet. Nicht nur die rohe Gewalt von Stricken. Jesus aber antwortet mit einem Rätselwort: „Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten.“ Joh 2,19
Die erstaunten und verblüfften Gesichter der Gesprächspartner kann ich mir gut vorstellen: „46 Jahre wurde an diesem Tempel gearbeitet, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten?“ (Joh 2,19) Jetzt denken sie vielleicht, dass Jesus völlig übergeschnappt sei. Aber auch seinen Jüngern geht dieses Wort nicht sofort auf. Da muss erst die Erfahrung von Ostern kommen, um zu verstehen. „Als er von den Toten auferweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift.“ (Joh 2,22)
„Er aber meinte den Tempel seines Leibes“. (Joh 2,21)
Die Bedeutung des Tempels ist klar. Er ist das Haus Gottes. ER, der im Tempel gegenwärtig ist, der ist auch in Jesus aus Nazareth gegenwärtig. Mit diesem Wort legitimiert sich Jesus nicht nur, dieses Wort ist auch ein Vorgriff auf das Ende: die Kreuzigung. Am Tempel seines Leibes wird ein besonderer Gottesdienst geschehen. Der Dienst Gottes an uns Menschen. Am Kreuz geht Gott in unseren Tod. Der Tod der Sterblichen trifft auf das Leben des Unsterblichen. Am Tod des Einen wird das Leben für alle errichtet. Seitdem ist das Kreuz zu einem Zeichen der Hoffnung geworden.
„Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten.“ Joh 2,19
Vom Tempel in Jerusalem steht nur noch die Westmauer. Geblieben ist eine ungeheure Anziehungskraft. An den Freitagabenden versammeln sich unzählig viele Menschen und erwarten den Schabbat. Juden in traditionellen Gewändern, in dunklen Anzügen mit Hut, junge Leute in lässiger Kleidung, Soldaten in ihren Uniformen mit geschulterten Gewehren. Aber auch Menschen aller christlichen Konfessionen und sicher viele „Ungläubige“, die neugierig kommen und erstaunt wieder fortgehen. Hier wird gebetet, diskutiert, gesungen und getanzt. Dicht an der Mauer verrichten Menschen ihr Gebet und stecken kleine, handgeschriebene Zettel mit ihren Bitten in die Ritzen zwischen den Steinen. Zweimal im Jahr werden sie eingesammelt und am Ölberg vergraben. Das ist der Ort, an dem Jesus in der Nacht vor der Kreuzigung gebetet hat.
Schon einige Male hatte ich Gelegenheit, dort zu sein. Es war für mich immer ein besonderes Erlebnis von spiritueller Dichte. Eine Mauer aus Stein, Zeugin eine lange Geschichte der Menschen mit Gott. Weder die Zerstörung des Tempels noch der Tod am Kreuz haben zu dieser Geschichte den Schlusspunkt setzen können.
Die Mauer und das Kreuz wurden zu Zeichen der Hoffnung.
Kommentar schreiben