Aus dem Markusevangelium (1, 29-39)
29 In jener Zeit ging Jesus zusammen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und Andreas.
30 Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen sogleich mit Jesus über sie 31 und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie diente ihnen.
32 Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. 33 Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt 34 und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Und er verbot den Dämonen zu sagen, dass sie wussten, wer er war.
35 In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. 36 Si-mon und seine Begleiter eilten ihm nach, 37 und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich.
38 Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen.
39 Und er zog durch ganz Galiläa, verkündete in ihren Synagogen und trieb die Dämonen aus.
3.30 Uhr am Morgen. Draußen ist es noch stockdunkel. In der Kirche gibt es nur eine Notbeleuchtung.
Nach und nach betreten die Mönche den Altarraum. Sie sind eingehüllt in ihre weißen Chormäntel, deren Ärmel fast bis zum Boden reichen. Ich höre, wie die Sitze im Chorgestühl heruntergeklappt werden und einer nach dem anderen seinen Platz einnimmt. Irgendjemand stößt kurz gegen irgendetwas, ein anderer hustet, dann Stille - eine unglaubliche Stille. Fast meine ich, das Atmen der anderen zu hören. Es sind gleichmäßige und tiefe Atemzüge – ein und aus - ganz entspannt im Hier und Jetzt.
Einstimmen auf die Vigil, die um 3.45 Uhr beginnt.
Die Vigil ist das Nachtgebet der Trappisten(1) auf dem Mont des Cats (Katzenbuckel) im Norden Frankreichs unweit von Calais. Eine Stunde für Gott mit Psalmen, Lesung und vor allem mit Stille. Während meiner Sabbatzeit vor 5 Jahren durfte ich hier für zehn Wochen zu Gast sein. Diese frühen Gottesdienste waren für mich eine besondere Erfahrung. Eine Zeit, in der das Atmen zum Gebet wird.
Die Vigil (eigentlich Nachtwache) ist eine uralte spirituelle Tradi-tion. Propheten und Wüstenväter wussten die Nacht und den frü-hen Morgen als eine besondere Zeit zu schätzen. In den dunklen Stunden waren die Hände gebunden. Es gab kein Licht. Es gab nichts zu tun, außer zu schlafen oder zu wachen. Mit dem Sternen-himmel, der noch nicht mit den künstlichen Lichtern konkurrieren musste, weitete sich der Blick auf das Unendliche, auf den Unend-lichen hin.
„In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand Jesus auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten.“ 1,35
Auch Jesus weiß das Dunkel zu schätzen. Ohne abgelenkt zu sein, kann er noch einmal darüber nachdenken, was am letzten Tag alles an Unglaublichem geschehen ist. Nachdem er in der Synagoge von Kafarnaum einen Mann von einem bösen Geist befreit hatte, verbreitete sich sein Ruf rasend schnell. Da ist jemand, der böse Geister austreiben und Kranke heilen kann. Die ganze Stadt kommt zu zusammen. Die Menschen versammeln sich am Haus des Simon.
Sie rufen, bedrängen ihn, wollen berührt und geheilt werden. Vielleicht hat er ein gutes Wort, das stärkt und aufrichtet.
Wie lange wird das gegangen sein? Bis tief in die Nacht?
Ich kann gut verstehen, dass Jesus jetzt erst einmal eine Zeit für sich braucht. Zeit zum Nachdenken, Beten, Medi-tieren. Vielleicht ist er der Frage nachgegangen, was da geschehen ist? Und: Wie soll es weitergehen?
Der Andrang der Kranken wird nicht aufhören. Schon am frühen Morgen scheint das Haus des Simon wieder von Menschen, die auf Heilung und Zuwendung hoffen, umlagert zu sein. „Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich.“ (Mk 1,36f). Die Menschen haben große Erwartungen an Jesus. „Alle suchen dich.“ (Mk 1,37). Jesus antwortet: „Lasst uns anderswohin gehen!“ (Mk 1,37).
Leider hat uns der Evangelist nicht die Reaktion der Jünger überliefert. Vielleicht war es noch zu dunkel, um ihre erstaunten oder vielleicht sogar entsetzten Gesichter zu sehen: „Wie jetzt, wo anders hingehen?“ „Da stehen viele, viele Leute, die erwarten, dass du kommst und sie heilst.“ „Du kannst dich jetzt nicht einfach aus dem Staub machen.“
Auf Jesus lastet ein ungeheurer Druck. Da sind die vielen Menschen, die auf Heilung hoffen. Aber er ist nicht als Arzt nach Kafarnaum gekommen, sondern als Verkünder einer Botschaft: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (MK 1,15). Was würde aus dieser Botschaft, wenn er jetzt zurückginge? Käme er mit dem Heilen je an ein Ende? Würden nicht Morgen und Übermorgen und Überübermorgen wieder Kranke kommen? Was würde das am Ende ändern?
„Das Reich Gottes ist nahe!“ (MK 1,15). Diese Botschaft steht für die Möglichkeit, der Welt heute ein anderes Gesicht zu geben und so manches in einem neuen Licht zu sehen. Zu einer Zeit, da man Krankheiten hilflos gegenüberstand, wo die Aussätzigen ausgesetzt und ausgegrenzt wurden, wo die Überzeugung herrschte, dass Krankheit Folge von Sünde und Schuld war, steht die Botschaft vom Reich Gottes für eine diametral entgegengesetzte Sicht. Krankheit ist nicht Strafe, sondern eine Herausforderung an unsere Herzen.
Es macht einen Unterschied, ob da einer ist, der heilen kann, aber nie die Möglichkeit hat, alle zu heilen. Oder ob da einer ist, dem es gelingt, die Herzen der Menschen für die Kranken zu öffnen, sie nicht auszugrenzen und auszuschließen. Dafür steht die Botschaft vom Reich Gottes und wird zur Hoffnung auf eine menschliche Welt. Das Herz und die helfende Hand für die Kranken werden zu einem der Wesensmerkmale eines christlichen Lebens werden.
In der Stille und der Leere der Dunkelheit klärt sich für Jesus, was seine eigentliche Sendung ist. Ja, Kranke zu heilen, vor allem aber in die Herzen der Menschen die Botschaft vom Reich Gottes zu pflanzen. In der Stille und der Leere der Dunkelheit findet Jesus die Kraft, den Erwartungen von außen nicht nachzugeben und auf seine innere Stimme zu hören. „Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen.“ (Mk 1, 38).
3.45 Uhr. Es ist dunkel und still. Ein neuer Tag liegt vor mir. Wie viele Erwartungen und Forderungen werden auf mich zukommen? Ein neuer Tag liegt vor mir, eine neue Möglichkeit, Gott und mir selber treu zu bleiben.
(1) Die Trappisten sind ein Reformzweig der Zisterzienser und nennen sich „Zisterzienser der strengen Observanz“. Das erste Reformkloster war in La Trappe; Frankreich/ Normandie. Sie gestalten ihr Ordensleben möglichst eng angelehnt an die Regel des hl. Benedikt. Dazu gehören das Chorgebet, das einen Raum von 4,5 Stunden einnimmt, die persönliche Meditation, die tägliche Handarbeit, ein enges Gemeinschaftsleben und einfache, fleischlose Kost.
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