Bischof Dr. Franz Josef Overbeck
Liebe Schwestern und Brüder!
I.
Die Corona-Pandemie ist ein Jahrhundertereignis. Zumindest für die Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland groß geworden sind und eine solche umfassende Bedrohung bisher nicht
erfahren haben. Seit Mitte März 2020 hat COVID-19 innerhalb kürzester Zeit unser aller Leben bis hinein in die persönlichsten und familiärsten Kontakte völlig verändert. Unsere Welt ist eine
andere geworden: Abstandsregeln, Hygienegebote, gravierende Einschnitte vieler Grundrechte und nicht zuletzt ein zeitweise komplettes „Herunterfahren“ des öffentlichen Lebens haben eine
fremdartige Atmosphäre geschaffen. Alle wichtigen Kreisläufe der Wirtschaft, des alltäglichen Lebens und auch unserer Kirche haben ihren gewohnten Rhythmus verloren. Viele Menschen sind
verunsichert, erleben existentielle Ängste, erfahren Einsamkeit oder fühlen sich stark kontrolliert.
Merkwürdig bleibt mir auch die Zeit der so genannten „Lockerungen“ in den Sommermonaten 2020 im Gedächtnis: Eine neue „Normalität“ kam scheinbar zurück – und doch blieb die Gefahr des Virus
gegenwärtig. Die „Normalität“ blieb gänzlich instabil – und brach mit dem beginnenden Herbst jäh in sich zusammen. Wohin gehen wir? Was machen diese Erfahrungen auf Dauer mit uns? Was wird anders
sein und
anders bleiben, wenn die Gefahren des Virus eines Tages überwunden sein werden? Welche Folgen hat dieses epochale Ereignis für unsere Gesellschaft, für unsere Kirche, für unseren persönlichen
Glauben?
II.
Unabhängig von diesen großen Fragen werbe ich zuerst für eine nüchterne Haltung, die dabei hilft, sich mit Mut, Kraft und Entschlossenheit der Wirklichkeit zu stellen. Eine Pandemie ist für mich
kein apokalyptisches Ereignis, sondern ein innerweltliches Naturphänomen – manche sprechen auch von einer Naturkatastrophe der besonderen Art. Sie verlangt entschiedenes und effektives Handeln,
mit dem der Schaden
begrenzt und die vielen Folgewirkungen beherrscht und überwunden werden können. Die Corona-Krise ist kein Betriebsunfall im Getriebe der Welt, sondern eine Prüfung, die – gerade für uns Christen
– zu einer individuellen wie kollektiven Gewissenserforschung führen muss: Sind wir in der Lage, in Krisensituationen besonnen und solidarisch zu reagieren? Können wir uns für eine bestimmte Zeit
einschränken, um damit auf Dauer das Gemeinwohl zu schützen und zu sichern? Sind unsere politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen stark genug, um diese Krise zu
bewältigen? Haben die Menschen, die Verantwortung tragen, aber auch alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, genügend persönliche Reife und Stärke, um in dieser Ausnahmesituation angemessen zu
handeln?
Die Gefahr ist groß, in einer Krisensituation zuerst an sich selbst zu denken und das je eigene Interesse in den Vordergrund zu rücken. Aus christlicher Perspektive gilt es aber gerade jetzt, die
Würde aller Menschen und ihrer Rechte unbedingt zur Geltung zu bringen - unabhängig von Alter, Gesundheit und Nationalität. Umfassende Solidarität ist das Gebot der Stunde. Sie beginnt immer vor
Ort, in meiner unmittelbaren
Umgebung. Darum muss es für uns alle selbstverständlich sein, die Hygiene- und Abstandsregeln mitzutragen und einzuhalten. Zugleich braucht es ein hohes Maß an Aufmerksamkeit füreinander, damit
diejenigen, die zu vereinsamen drohen, in existentielle Krisen geraten oder gar schwer erkranken, nicht aus dem Blick geraten. Ich bin deshalb sehr dankbar für die vielen Initiativen, die es in
unseren Pfarreien und
Gemeinden, in Schulen, Kindertagesstätten und anderen Einrichtungen, in unseren Verbänden und nicht zuletzt in den Caritasverbänden gibt, um vielen Menschen mit den je eigenen Möglichkeiten sehr
konkret zu helfen. Großen Respekt haben diejenigen verdient, die sich in den Einrichtungen des Pflege- und Gesundheitswesens sowie in den vielen Behörden und Diensten unseres Landes bis an die
Grenzen der
Belastbarkeit einsetzen, um die Folgen der Corona-Krise zu bewältigen.
Aber ich sehe auch, wie sehr die Pandemie mit all ihren Folgen viele Menschen überfordert. Das Virus ist eine unsichtbare und unheimliche Bedrohung. So werden manche Ängste ausgelöst, die kaum
auszuhalten sind. Verschwörungstheorien haben auch hier ihre Ursache. Sie bieten einfache Erklärungen und verführen dazu, vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen. Ich habe großes
Verständnis für alle, die sich
gegenwärtig sorgen und ängstigen. Aber ich warne ausdrücklich vor denjenigen, die menschliche Ängste dazu missbrauchen, um ihre politischen und andere Interessen zu verfolgen. Es ist auffallend,
dass rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen die Corona-Krise nutzen, um unsere Demokratie zu beschädigen. Über die richtigen Maßnahmen zur Bewältigung einer Pandemie darf und muss
gerungen werden. Es gibt keine Patentrezepte und auch Wissenschaftler und Politiker bleiben Suchende in Krisenzeiten. Wer aber in dieser Situation unsere Demokratie als „Corona-Diktatur“
diffamiert, die Gefahr des Virus‘ leugnet oder sogar Vergleiche mit der Zeit des Nationalsozialismus formuliert, befindet sich auf einem gefährlichen Irrweg und handelt verantwortungslos. Mit dem
christlichen Glauben sind solche Thesen nicht zu vereinbaren. Sie helfen niemandem, sondern verschärfen die Krise, weil sie Misstrauen säen gegenüber all‘ denjenigen, die derzeit alles versuchen,
um die Pandemie einzudämmen. Das Virus ist real – und seine Ausbreitung verursacht die fatalen Folgen, die wir alle zu spüren bekommen.
Die Dramatik der Situation ist groß: Unsere Gesellschaft befindet sich nahezu im Stillstand, geprägt vom Gefühl einer eher stillen Verzweiflung vieler Menschen. Streit und Auseinandersetzungen in
Familien und Lebensgemeinschaften kommen hinzu, weil sie plötzlich für längere Zeit als gewohnt beieinanderbleiben müssen. Verdeckte Gewalt und schiere Not nehmen zu. Einfache Lösungen gibt es
dabei nicht. Die Welt erweist sich auch in dieser Situation als ambivalent, als viel- und doppeldeutig. Darum hilft ein radikales „Entweder – oder“ bei zu treffenden Entscheidungen wenig. Ein
„Sowohl - als auch“ hilft mehr. Wir müssen deshalb sowohl das Virus bekämpfen als auch darauf achten, dass die Folgen der dabei ergriffenen Maßnahmen nicht zu ganz anderen Schäden führen. Darum
ist es so wichtig, dass intensiv um alle Schritte der
Pandemie-Bekämpfung abwägend gerungen und gestritten wird.
III.
In den vergangenen Wochen und Monaten ist mir dabei oft ein Bild von Papst Franziskus in den Sinn gekommen, der im Blick auf unsere Kirche von einer „verbeulten Kirche“ spricht (vgl. Papst
Franziskus, Evangelii Gaudium 49). In vielfacher Weise können wir heute von einer „verbeulten Welt“ sprechen, die verletzt und beschmutzt ist, hin und her gerissen von den Anforderungen und
Veränderungsprozessen des Alltags. Genau darum gilt es, trotz aller großen und notwendigen politischen Unterstützungsprogramme immer wieder von unten anzufangen
und durch tatkräftige Hilfe anderen beizustehen. Papst Franziskus sagt: „Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen schwer Verwundeten nicht nach Cholesterin und
hohem Zucker fragen. Man muss seine Wunden heilen. Man muss ganz unten anfangen.“ (Papst Franziskus, Evangelii Gaudium 49). Wir werden mit diesem Wort an unsere Ursprünge erinnert – an Jesus
Christus selbst und sein Evangelium. Er erinnert uns daran, dass wir Menschen sein sollen, die ganz aus Gott heraus leben, sich für andere einsetzen und hier auch Trost und Kraft für diesen
Einsatz finden.
Die Coronakrise führt uns die Begrenztheit des menschlichen Lebens und dieser Welt vor Augen: Es geht nicht immer einfach weiter aufwärts. Es geht nicht immer schneller, weiter und höher. Es
lässt sich auch nicht alles immer mehr sichern. Und auch die Freiheit hat Grenzen. Alles ist endlich. Dabei macht mich nachdenklich, dass vieles in den letzten Wochen und Monaten weggefallen ist,
dabei oft aber auch eine geheime Erleichterung darüber spürbar war. Offenbar zeigt sich jetzt deutlicher, was wir im Alltag gar nicht mehr brauchen und wo sich das Leben verändern muss. So
erweist sich diese Krise auch als eine Chance, unser persönliches, gesellschaftliches und kirchliches Leben kritisch zu hinterfragen und im guten Sinn zu reformieren. Zusätzlich sind auch ganz
neue Ressourcen entdeckt worden. Es gibt eine große Solidarität
unter den Menschen, verbunden mit einem hohen Maß an Improvisation und Kreativität.
IV.
Die lange Dauer der Krise zehrt aber inzwischen an den Nerven. In den ersten Wochen im Frühjahr 2020 hofften die meisten noch darauf, der „Corona-Spuk“ könnte über die Sommerzeit hinweg wieder
verschwinden. Längst ist klar: Diese Pandemie wird uns noch länger belasten. Wenngleich bereits Impfstoffe gegen das Virus entwickelt wurden, so braucht es noch sehr viel Zeit und Geduld, ehe
flächendeckende und nachhaltig erfolgreiche Maßnahmen die Corona-Gefahr ernsthaft überwinden werden. Gerade für unsere freiheitliche und plurale Gesellschaft, die bisher vieles für machbar hielt,
ist das schwer erträglich. Wir lernen neu, warten zu müssen. Und wir müssen zusätzlich lernen, von Kompromissen und oft nur zweitbesten Lösungen zu leben, um zu verantwortungsvollen Antworten und
Perspektiven in einer Welt zu kommen, in der es Unterbrechungen von solcher Tragweite eigentlich nicht geben darf. Die letzten Monate haben immer wieder gezeigt: Es gibt keine absoluten
Sicherheiten. In jeder Situation muss neu gerungen und abgewogen werden. Niemand kann genau sagen, was richtig oder falsch ist. Einen Schritt nach dem anderen zu tun, das bringt zurzeit oft
bessere Lösungen hervor als ein bewusst entworfener Gesamtplan. Viele Entscheidungen in der Pandemie sind sehr bewusst Kompromisse auf Zeit. Unser Wissen erweist sich als begrenzt und vorläufig;
die Erkenntnis unserer Wirklichkeit verändert sich beständig. So führt uns die Corona-Pandemie schmerzlich vor Augen, dass vieles ein Provisorium bleibt, weil die fortschreitenden Entwicklungen
stets neue Entscheidungen erfordern.
V.
Für uns Christen ist der Glaube an Gott ein besonderer Trost: Das aus dem Griechischen stammende Wort „Krise“ lädt ein zur Unterscheidung und zu neuen Entscheidungen im Leben. Wir Christen können uns neu entscheiden, in dieser Lage mit Gott zu rechnen und ihn gerade dort zu erleben, wo Menschen angesichts der Not zusammenrücken, Nächstenliebe üben und Verantwortung übernehmen. Es wird jetzt deutlich, was wirklich wichtig ist und wovon wir Menschen zutiefst leben: Wir sind aufeinander angewiesen, brauchen einander gerade in schwieriger Zeit. Die Nächstenliebe ist es, die die Prioritäten bestimmt – nichts anderes darf Vorrang haben.
Genau aus diesem Grund ist die derzeitige Lage ein Ernstfall für ethische Entscheidungen, die stets aus tiefen moralischen Überzeugungen getroffen werden müssen. Die Würde aller Menschen und ihrer Rechte sind zur Geltung zu bringen – und gleichzeitig ist darauf zu achten, niemanden zu überfordern. Als Christen können wir in dieser Zeit mithelfen, besonnen, zuversichtlich und solidarisch zu bleiben.
VI.
Persönlich habe ich in den vergangenen Monaten zudem den wohl wichtigsten Lebensnerv unserer christlichen Glaubenspraxis neu entdeckt: Gerade in jenen Wochen, als uns durch den ersten „Lockdown“ nahezu das gesamte öffentliche gottesdienstliche Leben genommen wurde, blieb oft nur das stille, einsame, kontemplative Gebet, um die unmittelbare Nähe zu Gott zu suchen. Liegt darin auch eine Entdeckung für unser weiteres kirchliches Leben, das oft von einer hohen Betriebsamkeit geprägt ist? Braucht es mehr Stille und weniger Worte; mehr innere Ruhe und weniger äußere Aktivität? Wir sind auch flexibler und kreativer in dieser Krise geworden: Gottesdienste haben gerade durch die digitalen Möglichkeiten ganz andere Formen angenommen, wurden zuweilen auch intensiver erlebt. Mancherorts sind kleinere Gebetsformen in Familien und Gruppen neu entdeckt worden. Und nicht zuletzt sind auch unsere Konfessionen und Religionen neu zusammen gerückt im Gebet und in der Verbundenheit des Glaubens an den einen Gott.
Ich danke allen von ganzem Herzen, die in den zurückliegenden Monaten mit großem Einsatz und viel Kreativität das geistliche Leben in unserem Bistum lebendig gehalten und weiterentwickelt haben. Gerade in der zurückliegenden Advents- und Weihnachtszeit haben sie in unseren Pfarreien und Gemeinden, in unseren Verbänden, Gemeinschaften und Einrichtungen in beeindruckender Weise gezeigt, wie sehr unser Glaube Menschen zusammenführen und innerlich stärken kann. Unzählige Menschen konnten so Trost und Kraft empfangen. Ausdrücklich danke ich ihnen allen aber auch dafür, dass sie seit dem Frühjahr mit aufwändigen Hygienekonzepten unser gottesdienstliches Leben mit hohem Einsatz und viel Geduld möglich machen. Gerade ohne die vielen ehrenamtlichen Dienste wäre das nicht möglich.
Der Blick auf die letzten Monate zeigt also, dass wir in unserer Kirche auf die zwei wesentlichen Säulen unseres Glaubens zurückgeworfen wurden: Gebet und Caritas; inniges Vertrauen auf Gott und solidarische Liebe zu den Menschen. Vielleicht lehrt uns die gegenwärtige Krise, was Glaube und Religion im Wesentlichen bedeuten und was im Zentrum unserer Kirche steht. Diese Erfahrungen jedenfalls können auch manche innerkirchliche Diskussion neu ausrichten.
In mir ist eine gewisse Demut entstanden angesichts dieser Zeit, in der urplötzlich so vieles anders geworden ist. Demut steht doch am Anfang eines Weges, der nicht mehr vom Druck des immer schneller, immer besser, immer höher bestimmt ist, sondern der uns zu mehr Bescheidenheit führt im privaten, öffentlichen und auch kirchlichen Leben. Auf diesem Weg bietet Gott uns seine Freundschaft an, wie er es in Jesus Christus getan hat, dessen Menschwerdung wir an Weihnachten gerade gefeiert haben. So sind wir miteinander eingeladen, mit unserer Schwachheit, Schutzlosigkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit daran erinnert zu werden, dass es den lebendigen Gott gibt, der uns trägt, hält, heil macht und schließlich am Ende das neue Leben in seiner Ewigkeit schenken wird.
Von Herzen erbitte ich Ihnen und uns in diesem Sinne ein Jahr 2021, das zum Segen wird, weil wir in allem auf Gottes gutes Geleit setzen. Ihnen, Ihren Familien und allen, die zu Ihnen gehören und mit denen Sie leben, in allem viel Gutes und die Erfahrung von Gottes Nähe.
Ihr
+ Dr. Franz-Josef Overbeck
Bischof von Essen